Kosovo: Intervention aus Humanität?
Intervention aus Humanität?
Moralisch-politische Urteilsbildung am Beispiel des Kosovos
von Michael May
(abgedruckt in der Zeitschrift Gegenwartskunde 1999, Heft 1, Seite 85-97)
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Auszug
Einleitung
Der Konflikt im Kosovo wird von Schülern wahrscheinlich unter dem Aspekt der humanitären Dringlichkeit wahrgenommen. Die Präsenz des Konfliktes in den Medien (zerstörte Dörfer, fliehende und tote Menschen) wirken als Anstoß, sich eine Meinung zu bilden, sich dazu zu äußern und z. B. Maßnahmen zur Abhilfe dieser Situation zu fordern. Eine weitere, für die Schüler erst im Verlauf der Unterrichtsreihe wichtiger werdende Motivation für die Auseinandersetzung mit dem Thema, leitet sich aus dem Wissen um eine interdependente Welt ab. Ökonomische, ökologische und militärische Krisen berühren eine zunehmende Zahl von Interessen internationaler Akteure . Dies ist - mit Ausnahme der ökologischen Probleme - eine Entwicklung, die schon früh einsetzte. Weltkriege und Weltwirtschaftskrise sind Symptome dieses Prozesses.
Krisen in einer interdependenten Welt besitzen ein desintegratives Potential, oder - konkreter für unseren Fall formuliert - regionale Kriege gefährden den Frieden von Erdteilen, ja der ganzen Welt. Dieser Tatsache, die in schrecklicher Weise durch die beiden Weltkriege zu Bewußtsein gekommen ist, versuchte man schon in der ersten Hälfte unseres Jahrhundert u. a. durch die regulierenden Instanzen des Völkerbundes (1919) und später der UNO (1945) zu begegnen. Zwar war der UNO bis jetzt ein längeres Leben als dem Völkerbund beschieden, allerdings muß man die integrierende Relevanz der UNO während des Ost-West-Konfliktes bezweifeln. Integration war vielmehr gewährt durch das 'Gleichgewicht des Schreckens' und die damit einhergehende Blockbindung. Das Wissen um die Folgen einer nuklearen Auseinandersetzung verlieh dem Ost-West-Konflikt eine gewisse Stabilität (vor allem nach der Kuba-Krise 1962).
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist diese Integration auf Grund von Blockdisziplin einerseits und der Aussicht einer nuklearen Katastrophe anderseits weggefallen. Die Folgen sind Regionalisierung und das Aufkochen alter Rivalitäten und Interessengegensätze . Der Problemzusammenhang zwischen Interdependenz und Krise, wie ihn die Gründerväter des Völkerbundes und der UNO vor Augen gehabt haben müssen, gewinnt wieder an Brisanz: ursprünglich regionale Krisen lassen sich immer schwerer auf die Region begrenzen.
Beide Motivationen (humanitäre Dringlichkeit und Eskalationsgefahr) sind letztlich moralische Bedenken, da es um Werte geht, die man durch den Konflikt gefährdet glaubt (Menschenrechte und Frieden). Von diesem moralischen Aspekt ausgehend wird in der Unterrichtsreihe ein moralisch-politisches Dilemma entwickelt, indem dem moralischen Tatendrang bestehende Regelungen gegenübergestellt (Völkerrecht) und die möglichen Folgen und Nebenfolgen einer Entscheidung mit bedacht werden. Der Zugriff auf das Fachwissen wird entsprechend dieser didaktischen Vorüberlegung organisiert.
Literatur
- Czempiel, Ernst-Otto: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. 2. Aufl. München 1993.
- Habermas, Jürgen: Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. 2. Aufl. Frankfurt/Main 1992. S. 9-30.
- Kaiser, Karl/May, Bernhard: Weltwirtschaft und Interdependenz. In: Kaiser, Karl/Schwarz, Hans-Peter (Hg.): Die neue Weltpolitik. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 1995. S. 396-402.
- Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Stuttgart 1996 (zuerst 1786).
- Kohlberg, Lawrence: Kognitive Entwicklung und moralische Erziehung. In: Politische Didaktik. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis des Unterrichts. 3/1977. S. 5-19.
- Lübkemeier, Eckhard: Nukleare Rüstung und Rüstungskontrolle. In: Woyke, Wichard (Hg.): Handwörterbuch Internationale Politik. 6. Aufl. Opladen 1995. S. 352-360.
- Simonis, Udo Ernst: Globale Umweltprobleme. In: Kaiser, Karl/Schwarz, Hans-Peter (Hg.): Die neue Weltpolitik. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 1995. S. 123-132.
- Matthies, Volker: Regionale Anarchie als globales Problem. In: Kaiser, Karl/Schwarz, Hans-Peter (Hg.): Die neue Weltpolitik. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 1995. S. 166-176.
- Mickel, Wolfgang W.: Europabezogenes Lernen. In: Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts. 1997. S. 412-428.
- Reinhardt, Sibylle: Werte-Wandel und Werte-Erziehung. Perspektiven politischer Bildung. In: Buchen, Silvia/Weise, Elke (Hg.): Schule und Unterricht vor neuen Herausforderungen. Weinheim 1995. S. 117-145.
- Reinhardt, Sibylle: Braucht die Demokratie politische Bildung? Eine nur scheinbar absurde Frage. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament (APuZ). B 47/96. S. 9-22.
- Weber, Max: Politik als Beruf. (1919). In: Ders.: Gesammelte politische Schriften. Herausgeg. von Johannes Winckelmann. 5. Aufl. Tübingen 1988. S. 505-560.