Bildung und schulische Selektion
Die Tagung wurde von Deutsch-Japanischen Zentrum Berlin in Kooperation mit dem Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB, ehemals ZSL) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt. Ein breites Interesse der (Fach-) Öffentlichkeit an der Thematik der Tagung schlug sich in über 90 Anmeldungen und einem durchgängig sehr guten Besuch der Veranstaltung nieder.
Prof. Dr. Werner Helsper (Geschäftsführender Direktor des ZSB) wies in seinen einführenden Worten auf das Anliegen der Tagung hin: Das Verhältnis von sozialer Herkunft, schulischer Selektion und Bildungserfolg im internationalen Vergleich zu diskutieren. Während die Durchsetzung des Leistungsprinzips in der Gestaltung von Schullaufbahnen in der historischen Entwicklung die Privilegien aufgrund sozialer Herkunft insgesamt erfolgreich zurückgedrängt habe, müsse man sich heute fragen, welche Rolle die Schule immer noch und wieder spiele in der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Die Ergebnisse der PISA 2000 Untersuchung machen darauf aufmerksam, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg international sehr unterschiedlich stark ist. Dies wirft die (alte) Frage nach der Erzeugung "sekundärer" Ungleichheiten im Bildungssystem (erneut) auf. Die Tagung nahm zur Diskussion dieser Frage drei sehr unterschiedliche Bildungssysteme in den Blick: das deutsche, das von allen in PISA untersuchten den engsten Zusammenhang von sozialer Herkunft und erreichter Lesekompetenz aufweist, das japanische, das die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern am deutlichsten von deren Herkunft entkoppeln konnte und das skandinavische, das innerhalb Europas als integrativ und inklusiv gilt.
Prof. Dr. Beate Krais (Darmstadt) beschrieb die Bildungsungleichheit in Deutschland als ein sehr gut und differenzeit erforschtes Thema, dem allerdings öffentliche Aufmerksamkeit erst mit PISA zukam. Demgegenüber sei die Haltung der Schule und Schulpolitik als "Pädagogischer Defätismus" zu kennzeichnen. Probleme sozialer Ungleichheit würden in der Familie angesiedelt und Schule als eine autonome Welt konzipiert, die selbst keinen Anteil an der Reproduktion sozialer Ungleichheit habe. Frau Krais problematisierte die geisteswissenschaftliche Tradition der Didaktik in Deutschland und die stark fachbezogene Lehrerausbildung, die beide wenig an der Professionalität des Lehrerhandelns ausgerichtet seien. Mit Blick auf Hemmnisse einer grundlegenden Schulreform in Deutschland sprach die Referentin die spezifisch deutsche Dominanz des Bildungsbürgertums und den prägenden Mythos des deutschen Gymnasiums an. Diese zugespitzten Thesen wurden anschließend kontrovers diskutiert.
Herr Dr. Sakano Shinji (Tokyo) stellte die Struktur des japanischen Bildungssystems vor und stellte vor allem den hohen Anteil eines Jahrgangs heraus, der die Oberschule abschließt (96%). Die Ergebnisse von TIMSS und PISA seien in Japan ohne großen Einfluss auf die Bildungspolitik geblieben. Diese war in den letzten Jahren von grundlegenden Reformen gekennzeichnet, die aber nicht mit den Ergebnissen der internationalen Schulleistungsstudien begründet wurden. In der letzten Lehrplanreform (1998) wurden 30% der verbindlichen Lehrinhalte gestrichen zugunsten einer neuen Akzentuierung selbständigen Lernens. Die japanische Schulpolitik sei seit einigen Jahren stark von den Prinzipien des "New Public Management" geprägt, berichtete Herr Sakano.
Herr Prof. Dr. Tobias Werler (Kristiansand) sprach über die Grundzüge der skandinavischen Bildungspolitik. Diese sei geprägt von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer verspäteten Industrialisierung, einer großen Homogenität der Bevölkerung und einer starken Frauenbewegung. Kennzeichen aller drei skandinavischen Schulsysteme sei die Einheitsschule und die Standardisierung des nationalen Curriculums, dem allerdings seit den 1980er Jahren die Entwicklung zur Autonomie der Einzelschule gegenüber stehe. Die Ergebnisse von PISA seien v.a. in Schweden und Dänemark Auslöser einer kritischen Diskussion gewesen, die Defizite in der Lehrerbildung ausmachte und die Förderung der Leistungsspitze in neuer Weise thematisierte.
Die Podiumsdiskussion, die den ersten Tag abschloss, fokussierte auf die Debatte um bildungspolitische Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen. Die Referentin und die Referenten des Nachmittags wurden um Herrn Dr. Elmar Schulz-Vanheyden als Vertreter der Kultusministerkonferenz (KMK) und Prof. Dr. Jürgen Baumert, den Leiter der PISA 2000 Studie in Deutschland ergänzt. Herr Schulz-Vanheyden stellte heraus, dass die KMK durchaus auf PISA reagiere. Die grobe Richtung sei mit einer Entdifferenzierung des Schulsystems einerseits und einer Individualisierung des Unterrichts andererseits zu beschreiben. Jürgen Baumert betonte, dass die Forschung keine gesicherten Ergebnisse hinsichtlich der Entstehung sozialer Ungleichheit im Bildungssystem liefern könne und insofern für die Politik keine eindeutigen Empfehlungen aussprechen könne. Den Ausgleich sozialer Disparitäten zum Programm der Schule zu erheben sei jedoch zum Scheitern verurteilt - eine Position, die in deutlicher Opposition zu der von Beate Krais vertretenen stand.
Der zweite Tag war der Diskussion eines Forschungsvorhabens des Hallenser Zentrums für Schul- und Bildungsforschung und internationalen Aspekten der Forschung zum konkreten Operieren schulischer Selektion gewidmet. Der Hallenser Forschungsverbund wird in drei DFG-Projekten die "Mikro-Prozesse schulischer Selektion" mit Blick auf den Zusammenhang von Schulkarriere und Schülerbiographie, auf die Praxis schulischer Leistungsbewertung in der Unterrichtssituation und hinsichtlich der Bedeutung von Peer-groups untersuchen. Es geht in diesen langfristig angelegten Forschungsprojekten, das wurde auch in der Diskussion noch einmal heraus gearbeitet, weniger darum die Selektivität von Schule als solche zu negieren, als darum die Funktionsweise des alltäglichen, konkreten Sortierens von Schülern empirisch zu erschließen. Während der Akzent dieses Forschungsverbundes auf der Handhabung und Verarbeitung der Selektionserfahrung durch die Schülerinnen und Schüler liegt, berichtete Prof. Dr. Ewald Terhart (Münster) von einem abgeschlossenen Forschungsprojekt, das sich dem Alltag der Leistungsbewertung im Kontext des Lehrerhandelns gewidmet hatte. Terhart arbeitete heraus, dass es sich bei der Leistungsbewertung um einen Bereich des beruflichen Handelns von Lehrerinnen und Lehrern handelt, der kein systematischer Gegenstand der Ausbildung ist (sondern eher `on the job´ gelernt wird), der auch im Kollegium eher de-thematisiert wird und insgesamt eher als der `schmutzige´ und unpädagogische Teil des Lehrerberufs gilt. Die Leistungsbewertung gilt einerseits als eine sehr `persönliche´ Praxis, andererseits scheint es Unterschiede nach Alter, Schulform und Fach der Lehrperson zu geben. Deutlich wurde, dass hier weitere Forschung vonnöten ist.
Prof. Dr. Fujita Hidenori (Tokyo) lenkte den Blick der Tagung noch einmal auf den weiteren Kontext bildungstheoretischer und bildungspolitischer Fragen: Welche Art von Wissen muss die Schule von heute anbieten? Welches Curriculum und welche Lernformen folgen daraus? Fujita zog eine kritische Bilanz der aktuellen japanischen Bildungs- und Reformdiskussion. Er verwies darauf, dass das japanische Schule international als außerordentlich leistungsfähig eingestuft worden ist und im Hinblick auf die Bereitstellung qualifizierter Arbeitskräfte, sozialer Integrationsfähigkeit und Chancengleichheit in der Tat gute Ergebnisse erzielt habe. Umso ironischer sei es laut Fujita, dass im Rahmen der aktuellen Reformmaßnahmen exakt die Grundlagen des bisherigen Erfolgs in Frage gestellt werden. Beispiele sind die Reduzierung der Stundenanzahl für den naturwissenschaftlichen Unterricht oder die neunjährige Einheitsschule.
Prof. Dr. Andrew Pollard (London) gab einen weit gespannten Überblick über die Entwicklung und den Stand der Forschung zu Fragen schulischen Lernens und schulischer Selektion in Großbritannien. Insbesondere berichtete er von einer eigenen Längsschnittstudie, die eine Reihe von Schülerinnen und Schülern durch die ganze Schullaufbahn hindurch begleitet hat. Untersuchen lässt sich in einem solchen Projekt die Entwicklung von "Lerner-Identitäten" und ihr Zusammenhang mit der Entwicklung von Schülerkarrieren. Der Trend der angelsächsischen Forschung gehe jedenfalls dahin, den Lernenden in den Mittelpunkt zu rücken und sowohl Unterrichten als auch Leistungsbewertung als auch Lernen als (miteinander verknüpfte) soziale Praktiken anzusehen.
In der Abschlussdiskussion, die von Gesine Foljanty-Jost moderierte wurde, wurde noch einmal die Bedeutsamkeit einer international vergleichenden Perspektive hervorgehoben, wie sie für die Bildungsforschung vor allem durch die PISA-Studie und die öffentliche Rezeption der PISA-Ergebnisse einen großen Aufschwung erfahren hat. Erst im Vergleich sehr unterschiedlicher Bildungssysteme zeigen sich Spezifika (und auch Mängel) des einzelnen Bildungssystems. Allerdings ist bei dem internationalen Vergleich zu beachten, dass die Gestalt nationaler Schulsysteme nicht isoliert von der jeweiligen Geschichte und dem kulturellen Kontext zu diskutieren ist. Bildungssysteme erscheinen keinesfalls einfach übertragbar in andere nationale und kulturelle Kontexte. Dennoch erweist sich der internationale Vergleich zumindest heuristisch als sehr fruchtbar, wie auch diese Tagung wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.
Georg Breidenstein und Gesine Foljanty-Jost